Brexit-Einigung: Nur ein erster Schritt



“Das ist der Entwurf in meiner Hand hier”, sagt Michel Barnier und hebt das 585 Seiten starke Papier hoch. “Es gibt keine Farben mehr darin”, sagt er. “Weiß ist das neue Grün.” Grün, das hieß bislang: Streit. Weiß, das heißt jetzt: Einigung. Nach 20 Minuten sagt der Brexit-Chefunterhändler der EU-Kommission dann die Worte, auf die alle gewartet haben: “Wir haben entscheidenden Fortschritt erzielt.”

Damit ist der Weg offen für den Sondergipfel der EU-Mitglieder, denn dieser Satz ist der offizielle Stempel: der Entwurf für ein Abkommen steht. Es ist der Satz, mit dem Barnier sagt: Mission erfüllt.

Barnier redet erst einmal auf Französisch. “An diesen Abend haben wir den Entwurf der Einigung veröffentlicht.” Das sei ein historischer Moment. Barnier spricht von “sehr intensiven Verhandlungen, die vor 17 Monaten starteten”.

Das Abkommen besteht aus 185 Artikeln, drei Protokollen und einer Reihe von Anhängen. Barnier unterstreicht die wichtigsten Punkte des Austrittsabkommens, spricht von den Rechten der Bürger, der Austrittsrechnung, dem Schutz geografischer Herkunftsbezeichnungen, der Atomenergie-Behörde Euratom und Datenschutz. Man ahnt, wie kompliziert die Verhandlungen auch in diesen Details gewesen sein müssen.

Der Backstop als Notfalllösung

Und der sogenannte Backstop, die Notfalllösung für die Grenze zwischen Irland und Nordirland? Das Problem, an dem die Verhandlungen zuletzt zu scheitern drohten? Findet sich etwas abseits bei den Protokollen ab Seite 302. Möglicherweise sind es die wichtigsten Sätze in dem Papier. Demnach soll das Vereinigte Königreich in der EU-Zollunion bleiben, bis seine zukünftige Beziehung zur EU geklärt ist – damit es zu keiner neuen harten Grenze mit Warenkontrollen zwischen Irland und Nordirland kommt.

Britische Güter bekommen demnach freien Zugang zum EU-Markt. Um einen unfairen Wettbewerb zu vermeiden, gibt es Regeln zu Beihilfen und beispielsweise Umweltstandards. “Der Backstop ist nicht dazu gedacht, genutzt zu werden”, sagt Barnier – eine Notfalllösung eben. Wenn es bis Juli 2020 kein Freihandelsabkommen für die künftigen Beziehungen gibt, sollen andere Lösungen gefunden werden, etwa eine Verlängerung der Übergangsphase.

Immer wieder betont Barnier, dass der Deal im beiderseitigen Interesse sei. Er will nichts sagen, mit dem er irgendwie anecken könnte im Vereinigten Königreich. Und er weiß, dass die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen noch schwierig werden könnten.

Bereits am Nachmittag waren die Botschafter der anderen 27 EU-Länder zusammengekommen. Barniers Stellvertreterin Sabine Weyand unterrichtete über den letzten Verhandlungsstand. Die Botschafter bekamen Auszüge aus dem Austrittsabkommen zu sehen, der Text selbst wurde mit Rücksicht auf die gleichzeitig stattfindende Kabinettssitzung in London noch nicht verteilt – auch wenn die wesentlichen Punkte ohnehin bereits bekannt geworden waren.

Manche Botschafter zeigten sich bei dem internen Treff besorgt über den strikten Zeitplan, der bis zum Sondergipfel am 25. November einzuhalten ist. Die EU-Länder wollen vor allem die Bestimmungen zur Zollunion genau prüfen. Deutschland und einige andere Staaten befürchten Nachteile für die heimischen Unternehmen, wenn britische Firmen weiterhin Zugang zur Zollunion genießen, sich aber nicht mehr an EU-Standards etwa in Sachen Arbeitssicherheit, Umweltschutz oder Produktqualität halten müssen.

In den nächsten Tagen kommt viel Arbeit auf die Beteiligten zu. Am Donnerstag um 11 Uhr werden Vertreter des EU-Parlaments über die Details der Einigung in Kenntnis gesetzt – denn auch die Abgeordneten müssen dem Austrittsdeal am Ende zustimmen. EU-Diplomaten gehen davon aus, dass Anfang kommender Woche ein Treffen der zuständigen EU-Minister einberufen wird, um den Sondergipfel vorzubereiten, auf dem dann die Staats- und Regierungschefs ihren Segen geben sollen.

Anschließend wartet die letzte große Hürde, an der das Abkommen noch hängenbleiben könnte: Die Abstimmung im britischen Parlament. Wie sie ausgehen wird, wagt kaum jemand vorherzusagen. Premierministerin Theresa May hat im Unterhaus nur eine hauchdünne Mehrheit. Die Brexit-Hardliner in ihrer Tory-Partei kritisieren die Einigung mit Brüssel scharf, auch einige der pro-europäischen Tory-Abgeordneten könnten gegen das Abkommen stimmen.

Auch Mays Koalitionspartner, die irische DUP, gibt sich reserviert. DUP-Chefin Arlene Foster warnte mit “Konsequenzen”, sollte Nordirland in irgendeiner Weise anders behandelt werden als das restliche Großbritannien. Und ob notfalls eine ausreichende Zahl von oppositionellen Labour-Abgeordneten May beispringen wird, ist ungewiss. Nahezu sicher scheint nur eines: Am 29. März 2019 tritt Großbritannien aus der EU aus – mit oder ohne Abkommen.

Ein ranghoher EU-Diplomat befürchtet, “dass bis März 2019 gepokert wird”. Und wie die Sache in Großbritannien am Ende ausgehen werde, wisse niemand. “Wir müssen mit den Notfallplänen deshalb voll weitermachen.”

Und auch wenn am 29. März einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der EU gelingen sollte, wären damit noch längst nicht alle Probleme gelöst. Denn dann geht es um das Abkommen über die künftigen Beziehungen, insbesondere um einen Handelsvertrag. Kommt er nicht innerhalb der Übergangsphase zustande, droht erneut Chaos.

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