LissabonDer langjährige britische Regierungschef Tony Blair fordert eine neue Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU. „Angesichts der enormen Uneinigkeit darüber, was der Brexit wirklich bedeutet und wie er aussehen soll, wäre es das Logischste, die Leute noch einmal zu fragen, ob sie noch weitermachen wollen“, sagt Blair im Gespräch mit dem Handelsblatt.
Bei Mays Plan würde Großbritannien aber nichts gewinnen. „Alles, was wir dann erreicht hätten, wäre die Kontrolle zu verlieren, weil wir nicht mehr mit an den europäischen Tischen sitzen würden. Dabei ging es bei dem Votum gerade darum, die Kontrolle zurück zu holen.“
Die Alternative aber – eine vollständige Trennung – habe gravierende wirtschaftliche Nachteile. Die Briten hätten also nur die Wahl zwischen einem „sinnlosen“ und einem „schmerzhaften“ Brexit und das sei ihnen zum Zeitpunkt des Referendums im Juni 2016 nicht klar gewesen.
Er rechnet damit, dass die EU nach einer möglichen Blockade des weichen Brexits im Parlament wieder zu Gesprächen für den Verbleib der Briten bereit sei. „Dann spricht sehr viel dafür, dass Europa auf uns zukommt und ein neues Angebot für Verhandlungen macht, unter welchen Bedingungen Großbritannien in der EU bleiben kann.“
Europa habe sich seit dem Brexit-Referendum auch geändert und gehe heute etwas das Thema Immigration anders an. „Deshalb wäre das Beste ein neues Angebot, in dem die Briten entscheiden könnten, in einem reformierten Europa zu bleiben.“
Gerade in Zeiten wo China und die USA in der digitalen Revolution deutlich vor Europa liegen, sei es wichtig, dass die EU das Thema als Gemeinschaft angehe. Blair hat in seiner Amtszeit zusammen mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder den so genannten dritten Weg etabliert – eine Politik, die die beiden sozialdemokratischen Parteien modernisierte und in die politische Mitte rückte.
Für den starken Zuspruch, den Populisten weltweit derzeit verzeichnen, macht er zum Teil das Ende dieses Modernisierungsprozesses verantwortlich. Als er die Politik verlassen habe, hätte seine Labour-Partei „sich auf das alte Argument besonnen, dass Modernisierung Betrug ist und hat eine Rolle rückwärts nach links vollzogen“, so Blair.
Das führe dazu, dass Labour heute trotz des Chaos der konservativen Regierung rund um den Brexit in den Meinungsumfragen nicht vorne liege. Für einen Populisten indes findet Blair versöhnliche Worte: Donald Trump. „Man muss aufpassen, dass man sich über seine persönlichen Bemerkungen und die Tweets nicht so sehr empört, dass man nicht mehr klar sieht“, sagt Blair. „Die Politik, die er macht, ist viel mehr traditionell republikanisch als man vielleicht denkt, besonders die Wirtschaftspolitik.“
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Herr Blair, Sie fordern ein zweites Referendum über den Brexit. Würde sich die britische Regierung damit nicht unglaubwürdig machen?
Nein, angesichts der enormen Uneinigkeit darüber, was der Brexit wirklich bedeutet und wie er aussehen soll, wäre es das Logischste, die Leute noch einmal zu fragen, ob sie noch weitermachen wollen. Das ist, als hätte man sich darauf geeinigt, ein neues Haus zu kaufen, ohne es vorher gesehen zu haben.
Nach dieser Logik könnte man jedes Referendum wiederholen. Die Details kennt man immer erst hinterher.
Der Unterschied zu dieser Abstimmung ist die Dimension: Wir trennen uns von Europa. Wir haben komplizierte Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sowie Lieferketten. Das Ende unserer Mitgliedschaft im Binnenmarkt ist wirtschaftlich sehr schmerzhaft. Theresa May will deshalb einen weichen Brexit, bei dem Großbritannien eng an die EU gebunden bleibt.
Was ist daran so schlecht?
Alles, was wir dann erreicht hätten, wäre, die Kontrolle zu verlieren, weil wir nicht mehr mit an den europäischen Tischen sitzen würden. Dabei ging es bei dem Votum gerade darum, die Kontrolle zurückzugewinnen. Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit der Briten diesen Brexit ablehnen würde, weil er sinnlos ist. Die Alternative wäre ein harter Brexit und der Austritt aus dem Binnenmarkt mit all seinen wirtschaftlichen Schäden.
Es gibt also nur einen sinnlosen oder einen schmerzhaften Brexit. Das wussten wir vor zweieinhalb Jahren nicht. Damals haben wir die Folgen des Brexits nicht komplett verstanden.
Weil die Briten belogen wurden?
Es sind jede Menge Behauptungen aufgestellt worden, die offensichtlich falsch waren. Unsere Währung hat inzwischen 15 Prozent an Wert verloren, die Investitionen und das Wachstum sinken. Der Wirtschaft geht es noch gut, weil die Weltwirtschaft gut läuft. Aber uns geht es schlechter, als es ohne den anstehenden Brexit der Fall wäre. Ich akzeptiere vollkommen die Legitimität des Votums.
Aber es ist eine so weitreichende Entscheidung, dass wir den Briten die Chance geben sollten, darüber abzustimmen, ob sie den finalen Deal gutheißen. Wenn sie dann noch einmal für den Brexit stimmen, wäre der damit Fakt.
Aber wenn die Briten jetzt gegen den Brexit stimmten, könnten die Brexiteers in drei Jahren auch sagen: Wir wussten nicht, wie die verstärkte Integration in Europa aussehen würde – also lasst uns erneut abstimmen …
Wenn es den Brexit ohne eine weitere Billigung der Bevölkerung gibt, wird der Streit darüber nicht enden. Es wird immer noch viele Leute geben, die argumentieren, es hätte diese finale Billigung geben sollen. Der wirkliche Grund, warum die Brexiteers keine neue Abstimmung wollen: Sie fürchten zu verlieren.
Würden sie das?
Natürlich. Der Brexit, den May vorschlägt, hat fast null Prozent Unterstützung in den Meinungsumfragen. Und das liegt daran, dass Boris Johnson recht hat: Mays Brexit ist total sinnlos. Aber was sie über Johnsons Vorschlag sagt, stimmt auch: Er ist extrem schmerzhaft. Das ist die tatsächliche Wahl.
Was wird passieren?
Ich glaube, es wird darauf hinauslaufen, dass Mays Deal im Parlament scheitert. Und dann spricht sehr viel dafür, dass Europa auf uns zukommt und ein neues Angebot für Verhandlungen macht, unter welchen Bedingungen Großbritannien in der EU bleiben kann. Europa ist heute auch nicht mehr so, wie es im Juni 2016 war.
Beide Brexit-Lager gegen Theresa May
Das Thema Immigration wird anders gehandhabt, und es gab zahlreiche Wahlen, die eine Angst vor der europäischen Integration offenbart haben. Deshalb wäre das Beste ein neues Angebot, bei dem die Briten entscheiden könnten, in einem reformierten Europa zu bleiben.
Was passiert, wenn das Parlament Mays Deal blockiert, aber auch kein neues Referendum beschließt?
Wir brauchen einen Deal, irgendeinen. Aber im Parlament gibt es keinen Konsens. Kein modernes Land hat jemals versucht, die Liberalisierung seiner Handelspolitik systematisch zurückzudrehen.
Der Austritt Großbritanniens ist nicht das einzige Problem Europas. Was muss passieren, damit die EU nicht auseinanderfällt?
Europa muss sich ändern. Es muss die Ängste der Leute zur Immigration und Liberalisierung der Märkte anhören und darauf reagieren. Es ist dazu auch perfekt in der Lage und hat bei der Einwanderung schon begonnen. Aber es muss mehr passieren.
Was ist bei der Immigration nötig?
Die Leute wollen Kontrollen und ‧Regeln dafür. Die meisten sind nicht per se gegen Einwanderer, aber sie haben Angst, dass ihre Kultur verändert wird und dass viele Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern kommen, die womöglich nicht unsere Werte teilen. Wir müssen ehrlich auf diese Ängste eingehen.
Im Übrigen: Die Sorge, dass Europa auseinanderfällt, höre ich, seit ich in die Politik eingestiegen bin. Sie überlebt und wächst.
Sind wir jetzt nicht an einem schwierigeren Punkt als vor fünf Jahren?
Nein, da waren wir mitten in der Euro-Krise, und es sah so aus, als würde Griechenland aus der EU fliegen. Natürlich haben wir große Probleme in Europa, aber wir unterschätzen ständig das, was wir schon erreicht haben. Europa wird nicht auseinanderbrechen, auch wenn die Brexiteers das immer wieder behaupten.
Was macht Sie da so sicher?
Das kann man mit einem einzigen Wort erklären: China. Wir befinden uns mitten in einer technologischen Revolution, und Europa tut dabei nicht genug. Man muss sich nur die Marktkapitalisierung der Tech-Unternehmen angucken, die seit dem Jahr 2000 gegründet wurden – da sind Firmen wie Google noch nicht einmal dabei.
Die USA haben einen Anteil von 45 Prozent, die Chinesen von 35 Prozent und Europa weniger als 20 Prozent. SAP ist das einzige europäische Unternehmen, das mehr als 100 Millionen Dollar wert ist.
Wie lässt sich das ändern?
Wir müssen uns auf eine gemeinsame europäische Regulierung einigen und die richtigen Weichen in der Bildung, in den Universitäten und in der Forschung stellen. Wir brauchen einen starken Schub – und zwar gemeinsam, auf europäischer Ebene. Deshalb ist der digitale europäische Binnenmarkt so wichtig.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dieses Europa stark mitgeprägt und nun ihren Abgang angekündigt. Was bedeutet das für Europa?
Ich kenne sie seit Jahren und habe großen Respekt vor ihr. Sie war in den vergangenen Jahren die Schlüsselfigur in der europäischen Politik. Ihr Abgang bedeutet einen großen Wandel für Europa. Aber solche Wechsel gehören zur Politik, und sowohl Europa als auch Deutschland werden ihn verarbeiten.
Ein Grund, sich zurückzuziehen, war ein Streit über ihre Entscheidung, 2015 die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Was halten Sie davon?
Es war eine gut gemeinte Entscheidung. Aber ich glaube nicht, dass ihr Rückzug auf irgendeinen speziellen Beschluss als Kanzlerin zurückgeht. Sie ist 13 Jahre auf dem Posten und hat wahrscheinlich das Gefühl, ihren Dienst geleistet zu haben. Es gibt immer einen Zeitpunkt, an dem man ‧eine politische Führung erneuern muss. Sie hat Europa durch eine sehr schwierige Zeit geführt und hat das mit einem sehr guten Herzen getan.
Sie hatten ein engeres Verhältnis zu Merkels Vorgänger Schröder und haben ihre Parteien mit dem „dritten Weg“ in die politische Mitte gerückt. Geht die gerade wieder verloren? Schließlich wählen viele die Populisten.
Die Mitte, die wir geschaffen haben, war der Ort für den Wandel. Das Problem der Mitte heute ist, dass sie zum Ort für den Status quo geworden ist. Wir müssen wieder zu Changemakern werden. Und der Schlüssel dafür liegt darin, den technologischen Wandel zu verstehen und zu managen. Die Mitte kann überleben, aber sie muss sich erneuern.
Haben die großen Parteien Populisten Wähler in die Arme getrieben?
Sie haben es zumindest begünstigt. Als ich die Politik verlassen habe, hätte die Labour Party sich weiter modernisieren müssen. Aber stattdessen hat sie sich auf das alte Argument besonnen, dass Modernisierung Betrug sei, und hat eine Rolle rückwärts nach links vollzogen.
Heute haben wir in Großbritannien eine konservative Regierung, die stärker gespalten ist als je zuvor und die aus der wichtigsten Entscheidung, die das Land seit dem Zweiten Weltkrieg getroffen hat, ein Chaos veranstaltet. Und die Labour Party liegt in den Meinungsumfragen noch nicht einmal vorn. Dabei müsste sie mit 20 Punkten Vorsprung führen. Wenn sie noch eine Partei der Mitte wäre, würde sie das auch.
Die Demokraten in den USA halten nun die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Was heißt das für Präsident Donald Trump?
Die Demokraten haben gut abgeschnitten, aber das Ergebnis war auch nicht schlecht für Trump. Es sieht so aus, als hätten die Amerikaner sich etwas beruhigt, was seine Führung angeht. Deshalb ist das Rennen um die Präsidentschaftswahl 2020 sehr offen.
Wie meinen Sie das?
Ich denke, dass es in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft Leute gibt, die zwischen Trump dem Twitterer und Trump dem Führer unterscheiden. Trump ist ein Geschäftsmann, der in die Politik gewechselt ist und nicht nach den Regeln spielt.
Man muss aufpassen, dass man sich über seine persönlichen Bemerkungen und die Tweets nicht so sehr empört, dass man nicht mehr klarsieht. Die Politik, die er macht, ist viel republikanischer, als man vielleicht denkt, besonders die Wirtschaftspolitik.
Sie meinen doch nicht etwa die protektionistische Handelspolitik?
Wir haben noch keinen Handelskrieg. Trump bringt einige Praktiken von China zur Sprache. Und seien wir ehrlich: In einigen Punkten hat er recht. Die Chinesen haben ein Problem mit ihren abgeschotteten Märkten und mit dem Schutz von geistigem Eigentum. Natürlich sollten wir es nicht zu einem ausgewachsenen Handelskrieg kommen lassen. Aber die Amerikaner wollen vielleicht, dass die Chinesen ihnen antworten.
Herr Blair, vielen Dank für das Interview.