Im Video oben: Erdogan verspricht den Oppositionellen im Inland und ihren “Handlangern“ im Ausland eine “Osmanische Ohrfeige”.
Cafer Topkaya ist ein Gejagter. Oder zumindest hat er allen Grund, das zu glauben.
Dem 42-jährigen Türken wird vorgeworfen, ein Putschist zu sein. Einer derjenigen, die die türkische Regierung am Abend des 15. Juli 2016 zum Sturz bringen wollten.
Sechzehn Monate saß er deswegen bereits in türkischer Haft. Monatelang wurde Topkaya gefoltert, wie er sagt. Dann konnte der Nato-General fliehen – nach Brüssel, wo er vor seiner Inhaftierung stationiert war. Seitdem lebt der Türke in Sorge, dass auch er entführt werden könnte. Oder ermordet.
AP / HuffPost
Denn der Militär-Insider glaubt zu wissen: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat überall in Europa Schläferzellen regierungstreuer Fanatiker. Und er steht auf ihrer Liste.
Politik wie aus einem Geheimdienst-Thriller
Dass Exil nicht Sicherheit bedeutet, hat die türkische Regierung mehr als einmal deutlich gemacht. Im Mai 2018 verspricht Erdogan den Oppositionellen im Inland und ihren “Handlangern“ im Ausland eine “osmanische Ohrfeige“, bereits im Vorjahr forderte der regierungsnahe Journalist Cem Kücük, “drei bis vier“ Gülen-Anhänger im Ausland zu erschießen. Immer wieder schicken Erdogan-Unterstützer markige Drohungen an die Oppositionellen in der Diaspora: Wir kriegen euch.
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Und den Worten folgen Taten.
Wie im Kosovo. Dort nehmen im April Männer des türkischen Geheimdienstes MIT sechs Gülen-Anhänger fest. Obwohl die Staatsanwaltschaft des Landes einen Auslieferungsantrag ablehnt, werden die türkischen Staatsbürger entführt.
Oder wie in Gabun. Im Mai fliegt der türkische Geheimdienst drei angebliche Gülen-Unterstützer aus dem afrikanischen Land in die Türkei.
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Sogar aus der Schweiz wird im März ein ähnlicher Fall bekannt. Türkische Geheimdienstler trafen dort vor rund zwei Jahren einen Kontaktmann auf einem Friedhof. Er sollte einem Unternehmer mit türkischen Wurzeln für eine hohe Entlohnung K.O.-Tropfen ins Essen mischen. Auch diese Zielperson gilt als Gülen-Unterstützer, der Unternehmer sollte in die Türkei verschleppt werden. Der Schweizer Nachrichtendienst vereitelte den Plan in letzter Minute.
In Deutschland flog bereits im Jahre 2016 ein türkischer Spion auf, der sich mehrere Jahre lang als Reporter ausgab, um in Bremen das Vertrauen kurdischer Politiker zu erschleichen. Um sie so auszuspionieren und womöglich umzubringen.
Es sind Geschichten wie aus einem Agenten-Film. Und Cafer Topkaya fühlt sich, als sei er in diesem Thriller gefangen. Er weiß alles über die Vorfälle, akribisch erinnert er sich an jede Information, die über die umstrittenen Operationen der türkischen Regierung im Ausland nach außen dringt.
In der Putschnacht erkannt er nichts wieder
Topkaya spricht mit ruhiger Stimme, er klingt höflich. Der 42-Jährige hat lichtes dunkles Haar, er ist hager. Fast zerbrechlich wirkt der frühere Soldat. Seit 1992 ist er in der Armee, mehrere Jahre arbeitete er als Offizier für die türkische Marine.
In der Nacht des Putsches, dem 15. Juli 2016 ist Topkaya bei seiner Frau und seinen zwei Kindern in Brüssel. Er schaut Fernsehen, sieht in den Nachrichten, wie Jets und Helikopter über die Bosporus Brücke in Istanbul donnern, wie Panzer auffahren. Es fallen Schüsse.
Später wird er sagen: Was er dort sieht, sieht nicht aus wie ein Putsch.
Reuters / HuffPost
Nicht, wie die vielen Putschversuche, die es in der Türkei bereits gegeben hat. Und nicht wie die zuvor vereitelten Putschpläne, die er in seiner Zeit beim Militär zu sehen bekommen hat. Er ist mit detaillierten Operationsplänen vertraut – das ist Teil seines Jobs als General.
Am 15. Juli erkennt er nichts davon wieder.
“Es gab Panzer, es gab Flugzeuge. Die ganze Show, die die Menschen brauchen, um an den Putsch zu glauben“, sagt Topkaya der HuffPost. Eine Strategie erkennt er nicht.
Er ist Vertreter der Theorie, dass der angebliche Staatsstreich aufständischer Gülenisten in Wahrheit ein von der Regierung inszeniertes Spiel war. In der Türkei macht ihn das zum Verräter.
Die mächtigste Gruppe in der Türkei
Menschen wie Topkaya werden in den kommenden Monaten systematisch entlassen und inhaftiert. Rund 200.000 Menschen fallen dieser Säuberung zum Opfer. Besonders das Militär trifft der “Putsch nach dem Putsch“, wie es Kritiker bezeichnen. Rund 8000 Offiziere landen im Gefängnis. Experten gehen davon aus, dass zwischen 30 und 60 Prozent der militärischen Führung des Landes mehr oder minder über Nacht entlassen wurden.
Und Erdogan stellt das Militär neu auf.
Adnan Tanriverdi wird Chef des Beraterstabes des Präsidenten. Er ist ein ehemaliger Brigadegeneral, der bereits 1996 in den Ruhestand versetzt wurde, manche munkeln wegen seines religiösen Fanatismus.
HuffPost
Tanriverdi, der sich nur selten in der Öffentlichkeit zeigt, ist Gründer der dubiosen Söldnerfirma Sadat. “Foreign Policy” und die “Jerusalem Post” haben Sadat in der Vergangenheit als “Erdogans Schatten-Armee” bezeichnet, der Türkei-Experte Michael Rubin, der auch für das FBI tätig ist, nennt die Söldnerfirma “Erodgans Revolutionsgarde”.
Ex-Offizier Topkaya sagt sogar: “Sadat ist heute mächtiger als jede andere Gruppe in der Türkei.“
Zahlreiche Berichte deuten darauf hin, dass die Miliz in den vergangenen Jahren vor allem in Syrien aktiv war und dort islamistische Rebellengruppen ausbildete und unterstütze – schon vor dem offiziellen Kriegseintritt der Türkei. Von rund 3000 dort ausgebildeten Kämpfern geht der auf Kriegsführung spezialisierte US-Blog “Small Wars Journal” aus.
Bombenbau und Mordanschläge
Aber Sadat übt längst auch im Inland militärische Macht aus.
Im kurdisch geprägten Südosten der Türkei treten Sadat-Kämpfer Berichten zufolge immer wieder auf – im Kampf der türkischen Sicherheitskräfte gegen kurdische Aufständische und Terroristen. Im Dorf Lice nahe Diyarbakir werden ihre Männer mit arabischen Tattoos im Juli 2016 nur knapp an einem Massaker gehindert, als sie 34 Bewohner verbrennen wollen. So berichten es zumindest kurdische Nachrichtenseiten.
Howard Eissenstat vom Project for Middle East Democracy wirft Erdogan vor, er habe “Sicherheitsstrukturen aufgebaut, um sich politische Loyalität und Kontrolle zu sichern”. Es sei ein “Netzwerk aus informellen Sicherheitsinstanzen entstanden, aus militärischen Dienstleistern, parteinahen Vereinen und der militanter werdenden AKP-Basis”.
Selbst beschreibt Tanriverdi sein Unternehmen als “einzige Firma in der Türkei, die Beratung im internationalen Verteidigungssektor und militärisches Training anbietet”. Broschüren der Firma zeigen, dass es ihr nicht um die Vermittlung militärischen Grundwissens geht.
Auch “Bombenbau”, “unkonventionelle Kriegsführung”, das Agieren aus dem Hinterhalt, “Terror” und “Mordanschläge” stehen im Kurskatalog von Sadat.
In der Putschnacht zeigt Sadat seine Stärke
In der Nacht des Putsches zeigt sich Sadat in Istanbul vielen Beobachtern zum ersten Mal.
Topkaya kennt Männer, die sich der Gruppe angeschlossen haben – auch der Cousin seiner Mutter gehört dazu. “Sie trainieren seit Jahren”, weiß er. Schon einen Tag vor dem versuchten Coup seien viele von ihnen nach Istanbul gereist, hätten sich bewaffnet und bereitgehalten, sagt der Ex-Offizier.
Dann schlugen sie zu. Wilde Prügelszenen, Schüsse, Lynchjustiz: 34 Menschen verlieren ihr Leben, viele davon sind Putschisten. Zwei Kadetten werden laut Berichten erstochen, obwohl sie sich ergeben. Mindestens ein Opfer wird geköpft. Auch Sadat-Männer sollen unter den Tätern sein, behaupten Augenzeugen.
Dennoch gibt es keinen Aufschrei, keine Ermittlungen gegen die Gruppen. Im Gegenteil: Anfang Oktober befördert Erdogan Tanriverdi einmal mehr: zum obersten und einzigen Sicherheitsberater in seinem neuen Beraterstab.
Will die Miliz auch in Europa zuschlagen?
Aber wieso bereitet das Topkaya im Exil so große Sorgen?
Es ist mehr als die Abkehr vom pro-westlichen Kurs, für den das Militär seit der Gründung der Republik stand, die den Türken beunruhigt. Es geht auch um mögliche Pläne der Miliz, auch in Europa seine Macht auszubauen.
“Ein Freund, ein hohes Tier in der Armee, hat mir mitgeteilt, dass Sadat auch versucht, in Europa zu operieren, um gegen Oppositionelle vorzugehen“, sagt Topkaya der HuffPost.
AP /HuffPost
Sein Freund, eine starke Quelle im Militär, wie Topkaya beteuert, habe erklärt, Sadat wolle über die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu geheime Mitteilungen an Schläferzellen in Europa senden. Einen Beweis dafür hat er nicht, doch es deckt sich mit anderen Geschichten über das dubiose Unternehmen, die sich Erdogan-Kritiker erzählen.
Eine davon geht so:
Sadat-Gründer Tanriverdi ist eng mit Metin Külünk verbunden, einem Vertrauten Erdogans, gegen den in der Vergangenheit wegen Mafia-Kontakten ermittelt wurde und der als geheimer Unterstützer des mittlerweile verbotenen Boxclubs Osmanen Germania auftrat. Külünk koordiniert für Erdogan die Arbeit einer ganzen Reihe von Unterstützergruppen in Europa – auch im Namen von Sadat. Tanriverdi und Külünk wollen eine Europadivision der Miliz erschaffen, einen bewaffneten Arm Erdogans, der immer bereit ist, loszuschlagen.
Eine Brücke von Syrien nach Europa
Danach gefragt erklärt Topkaya, er halte das meiste davon für plausibel.
Tatsächlich ist hinreichend dokumentiert, wie umtriebig Külünk in Europa ist. Dass er auf Fotos immer wieder mit Männern posiert, die sich in Deutschland als Sicherheitstrupp des türkischen Präsidenten inszenieren, zeigt seine engen Kontakte mit der militant-nationalistischen Szene.
Ermittler hörten in der Vergangenheit ab, wie Külünk nicht nur Pro-Erdogan-Kundgebungen in Deutschland organisieren ließ, sondern die Osmanen Germania auch befehligte, Entertainer Jan Böhmermann einzuschüchtern.
Sogar Geld- und Waffentransfers an die mittlerweile verbotene Gruppierung soll er eingefädelt haben. Dass sich Külünk und Tanriverdi kennen, belegen Fotos unzweifelhaft.
Die Verbindungen scheinen fließend.
Und damit womöglich auch die Verbindungen zwischen Syrien und Europa. In dem Kriegsland unterstützt die Türkei islamistische Gruppierungen, es hat den Konflikt längst selbst zu einem Dschihad erklärt. In Europa fördert Ankara Erdogan-treue Netzwerke.
“Wenn ich ein europäischer Staatschef wäre, würde das Idlib-Abkommen mir Angst machen. Ich habe die Sorge, dass viele der Kämpfer aus der Region bald Teil dieser Netzwerke in Europa werden“, sagt Topkaya.
Auch er, der Gejagte, hat Angst vor weiteren Jägern. Mitten in Europa.