![]() Die Binnenlogik des Kapitalismus macht aus industriellen Produktionsstätten Ruinen (Fabrikgebäude in der Nähe von Detroit) … Foto: Patrickklida/commons.wikimedia.org/wiki/File:Fisher_Body_plant_21.jpg/creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en |
Der folgende Artikel beruht auf einem Vortrag, den der Autor auf Einladung der Marxistischen Abendschule (Masch) am 26. September 2018 in Hamburg gehalten hat und berücksichtigt die sich daran anschließende lebhafte Diskussion mit den rund 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Wer einen Blick in die hiesigen Konzernmedien wirft, dem wird auffallen: Im Zusammenhang mit dem Begriff »Krise« wird – oft kombiniert mit der Jahreszahl 2008 und dem Stichwort »Lehman« – meist in der Vergangenheitsform gesprochen.
Dieselben Medien betrachten aber die außenwirtschaftlichen Haupthandlungen beispielsweise der US-amerikanischen Regierung, die Zollschranken hochzieht – seit jeher die zentrale Handlung jedes Wirtschaftskrieges – mit völliger Selbstverständlichkeit als eine Reaktion auf die soziale Erosion in großen Teilen der USA, insbesondere im sogenannten Rust Belt, dem abgehängten und bedrohten einstigen Industriegürtel, die weiter anhalte. In diesem Zusammenhang wird die Gegenwarts-, nicht die Vergangenheitsform gewählt.
Beides geht nicht zusammen. Die Kennzeichnung der Krise als überstanden ist Wunschdenken, nicht Abbildung der Realität. Und die gegenwärtigen Erscheinungen sind Vorboten eines bevorstehenden neuerlichen Krisenschubs in der kapitalistischen Entwicklung, die seit 2008 ohnehin in einer Dauerkrise feststeckt.
Im Lager der herrschenden Klassen der imperialistischen Hauptnationen setzt sich trotz einiger gegenläufiger Meinungen mehr und mehr die Annahme durch, dass die ökonomische Entwicklung unweigerlich auf die nächste Krise zusteuert. Dennoch wird trotzig am bisherigen Kurs festgehalten. Die Irrationalität der ökonomischen Handlungen wächst systembedingt.
Ob deutsche Leitmedien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das Handelsblatt oder der international einflussreiche Economist – sie alle beschwören seit Wochen die kommende Krise. Charakteristisch ist dabei die Klage, aus den Ereignissen von 2007 und 2008 seien keine Schlussfolgerungen gezogen worden: Die Verschuldung habe heute noch größere Ausmaße angenommen, die Antwort der Finanzwirtschaft auf die strengere Regulierung sei eine wachsende Zahl von Schattenbanken, und die Zentralbanken hätten durch die dauerhafte Senkung des Leitzinses ihr Pulver, mit dem sie damals den Ausbruch der Krise bekämpft hätten, verschossen. Das immer lauter werdende Alarmgeklingel wird zwar auch von den politischen Eliten der imperialistischen Hauptländer betrieben – an ihrer Praxis ändert sich indes erkennbar nichts.
Rat- und Hilflosigkeit
Es herrschen Rat- und Hilflosigkeit. Das liegt zum einen daran, dass den Herrschaften die analytischen Instrumente fehlen, zu begreifen, was vor sich geht, vor allem aber daran, dass diesen Leuten auf der politischen Ebene keine Handlungsinstrumente mehr zur Verfügung stehen, es sei denn sie griffen zu deutlich drastischeren Mitteln und Methoden als bisher. Innerhalb der Linken wiederum verschmelzen antikapitalistische Einsichten mit der Angst vor dem Kommunismusvorwurf. Zwar werden bisweilen erstaunliche Teilerkenntnisse zum Krisenprozess geliefert, aber letztlich redet man doch um den heißen Brei herum.
Die britische Ökonomin Kate Raworth gelangte in ihrem 2017 erschienenen Bestseller »Die Donut-Ökonomie« (deutsch 2018) zu einer bemerkenswerten Erkenntnis: »Ob etwas, was ökonomisch nützlich ist, am Markt gegen Geld ausgetauscht wird oder nicht, hat erheblichen Einfluss auf die Sphäre der Finanzen, der Unternehmen und des Staates. Finanzinstitute können – beim Einstreichen von Zinsen, Renten oder Dividenden – nur dann einen Ertrag erzielen, wenn das ökonomisch Nützliche auch einen Marktwert hat. Unternehmen können den Wert nur als Rendite und Profit abgreifen, wenn der Wert sich über den Verkauf in Geld ausdrückt. Für Regierungen ist es viel einfacher, Steuern auf ökonomisch werthaltige Handlungen zu erheben, wenn sie über den Markt ausgetauscht werden. Alle drei also – Finanzinstitute, Unternehmen und der Staat – sind so strukturiert, dass sie von einem wachsenden Geldeinkommen abhängig sind und das auch erwarten. Wenn das in Geld ausgedrückte Nationaleinkommen nicht mehr wächst, dann hat das fundamentale Auswirkungen auf diese Erwartungen, selbst wenn der ökonomische Nutzen wächst.«
Damit ist das Tor sowohl für eine marxistische Analyse als auch für den sozialistischen Ausweg schon halb aufgestoßen – aber Raworth geht nicht hindurch, sondern appelliert an die Einsicht von Politikern, Unternehmern und Professoren der Volkswirtschaft.
Ohne Konsequenz ist auch die Einsicht von Jason Furman, dem früheren Vorsitzenden des wirtschaftlichen Beraterstabs von US-Präsident Barack Obama, der am 6. September im Handelsblatt feststellte: »Die Verlangsamung des Wachstums ist eine der zentralen Herausforderungen in den entwickelten Ökonomien der Welt. Die Wachstumsraten in den Industrieländern lagen in den letzten zehn Jahren im Schnitt bei 1,2 Prozent, verglichen mit dem Durchschnittswert von 3,1 Prozent in den 25 Jahren davor. Die Geschichte lehrt, dass Gesellschaften aufgrund langsameren Wirtschaftswachstums oft weniger großzügig, weniger tolerant und weniger inklusiv werden. Es ist daher naheliegend, dass das vergangene Jahrzehnt des trägen Wachstums zum Aufstieg einer schädlichen Form des populistischen Nationalismus beigetragen hat, der in einer wachsenden Zahl von Ländern um sich greift.«
Fazit: Es gibt eine Stagnation in der Herzkammer des Systems, der Ökonomie, Ratlosigkeit im theoretischen Überbau und praktisch eine Flucht in den Kampf »jeder gegen jeden«. Ohne Rekurs auf Marx, soll das heißen, fehlen die Instrumente, um das Wesen der Krise zu begreifen.
Finale Krise
Wer in dessen Tradition steht, weiß: Die gegenwärtigen Krisen- und Stagnationserscheinungen sind in ihrem Kern nichts anderes als der Vollzug der Prognosen, die Marx vor allem im dritten Band des »Kapitals« angestellt hatte: Der Kapitalismus wird mit innerer Notwendigkeit nach einer expansiven Phase an seine »wahre Schranke« stoßen. Die ganze Entwicklung des Kapitalismus ist von Krisen geprägt – aber sie steuert auf eine finale Krise hin, deren Entfaltung vor unseren Augen beginnt.
Die finale Krise beginnt allerdings erst dann, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: die Herstellung eines einheitlichen Weltmarkts und die Durchkapitalisierung aller bisher nicht kapitalistisch befriedigten Bedürfnisse (Gesundheit, Erziehung, Bildung, Kultur etc.). Ist die ganze Welt, sind auch Gesundheit, Kultur, Kommunikation und Bildung zu Waren geworden, gibt es keine neuen Sphären der Kapitalverwertung mehr, in denen die Verwertung der Ware Arbeitskraft noch erlaubte, das Sinken der Profitrate durch ein Wachstum der Profitmasse auszugleichen. Die Mehrwertrate – also das Maß der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft – mag weiter steigen. Die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals, die stetige Ersetzung also von menschlichem variablen Kapital durch konstantes Kapital seelenloser Maschinen, führt in der Tendenz zu einem unumkehrbaren Sinken der Profitrate. Dieser Punkt wurde irgendwann zwischen 1989 und 2008 erreicht: Die Herstellung des Weltmarktes ist nach dem Zerschlagen des sozialistischen Ausbruchsversuchs, der 1917 in Petrograd begann, vollendet worden, und die wissenschaftlich-technische Revolution verringert weltweit die Menge der in den Waren kristallisierten wertschaffenden menschlichen Arbeitskraft.
![]() … aus der gleichen Dynamik heraus erfolgt die Aufrüstung und wächst die weltweite Kriegsgefahr (der Flugzeugträger USS Nimitz vor San Diego, 5. Juni 2017) Foto: Mike Blake/REUTERS |
Dagegen werden häufig der Aufschwung Chinas und Indiens und die dort – oder auch in Nigeria – entstehenden neuen »Armeen der internationalen Arbeiterklasse« ins Feld geführt. Das Argument sticht indessen nicht. Jeder gebildete Linke kennt Heinrich Heines Ballade »Die schlesischen Weber«. Darin zeigt sich das Elend der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation deshalb so schrecklich schön, weil seit der Frühen Neuzeit Tausende von Menschen ihr Brot durch das Weben von Tüchern verdienten. Als die Spinnmaschine in Kombination mit der Dampfmaschine den Tauschwert von Tüchern drastisch verringerte, verringerte sich die Zahl der Weber nicht etwa, sondern sie wuchs zunächst an. Das folgte einer inneren kapitalistischen Logik: Um mit der Verbilligung der Produkte mithalten zu können, mussten die armen Verlagsweber länger weben. Die Alten, die sich nach der Versorgung des Viehs zuvor wieder hatten schlafen legen können, mussten nun ebenso ran wie die ganz Jungen. Der Wert der von ihnen gewobenen Tücher richtet sich im Kapitalismus aber nicht nach der tatsächlichen Menge der von ihnen geleisteten Arbeit. Entscheidend ist lediglich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Die jedoch wurde diktiert von der neuen Technik in den Tuchfabriken.
Das, was da vor mehr als 150 Jahren in Europa vor sich ging, ereignet sich jetzt global: Das »Wachstum der Arbeiterheere« in Asien und Afrika ist daher genauso vorübergehend, wie es das »Wachstum der Weberheere« in Deutschland am Beginn der Industrialisierung war. Die Gegentendenzen zur Haupttendenz waren immer da und werden es immer sein. Was ist die Haupttendenz?
1929 und heute
Das jetzt erreichte Stadium ist qualitativ anders als das in den Jahren nach der letzten großen Weltwirtschaftskrise von 1929. Damals war, weil die obengenannten beiden Voraussetzungen eben noch nicht gegeben waren, in der Tat eine historisch vorübergehende Lösung der Krise noch im Rahmen des Kapitalismus möglich. Weil Kapitalismus keine ewige Wiederholung immer gleicher Krisenzyklen ist, sondern, wie Marx sagt, ein prozessierender, also sich vertiefender Widerspruch, ist das, was damals ökonomisch möglich und politisch richtig war, heute ökonomisch nicht mehr möglich und damit politisch falsch.
In der Phase der finalen Krise müssen die imperialistischen Nationen versuchen, den immanenten Wachstumsbefehl des Kapitalismus, aus G immer G’, also aus Geld immer mehr Geld machen zu müssen, auf Kosten schwächerer Konkurrenten auch um den Preis eines Krieges zu befolgen. Der italienische Kommunist Palmiro Togliatti hatte auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1937 ausgeführt, ein Wirtschaftskrieg sei nur »der Auftakt und die Vorbereitung zu dem mit Waffen auszutragenden Krieg«. Diese Position entsprach auch der von Stalin, der einen imperialistischen Krieg anders als viele andere Genossen für unvermeidlich hielt.
Es liegt auf der Hand, dass uns erneut ein Krieg der imperialistischen Hauptmächte gegeneinander und gegen ihre Herausforderer bevorstehen könnte, wobei die internationalen Bündniskonstellationen kaum vorhergesagt werden können, wie im Jahre 1900 ja auch nicht klar war, in welcher Konstellation sich die damaligen Räuber an die Kehle gehen würden. Aber zumindest Friedrich Engels wusste, dass sie sich an die Kehle gehen würden, weil sie es aufgrund ihrer inneren Triebkräfte mussten. Brecht hat das einmal auf die Formulierung gebracht, dass die Herrschenden keinen Krieg wollen, sondern wollen müssen.
Der Grund liegt darin, dass im Kapitalismus das Einzelinteresse des kapitalistischen Unternehmens immer vor dem Gesamtinteresse der Gesellschaft, in der es wirkt, rangiert. Der Unternehmer oder der Vorsitzende eines Vorstands kann noch so menschenfreundlich sein. Weil das alles beherrschende Konkurrenzprinzip regiert, solange es Konkurrenten gibt, muss er versuchen, die lieben Mitbewerber mit billigeren und/oder technologisch besseren Produkten zu verdrängen, weil er sonst selbst vom Markt gefegt wird.
So sind die Abende nationaler und internationaler Zusammenkünfte von handelnden wie auch von theoretisierenden Ökonomen heutzutage voller weinseliger Trauerreden, dass es Wahnsinn sei, was gegenwärtig passiere – aber alle machen mit. Sie müssen mitmachen um den Preis des eigenen individuellen Untergangs, selbst wenn sie ahnen, dass sie damit am gesellschaftlichen Niedergang mitwirken. Sie sind Teilnehmer des Wirtschaftskrieges, und wenn – wie zur Zeit sichtbar – parallel zum Wirtschaftskrieg auch immer mehr Mittel von der Produktion ziviler Gebrauchswerte in die Produktion militärischer Gebrauchsgüter fließen, dann werden sie (wieder bei Strafe des eigenen Untergangs) eben Helme produzieren statt Kochtöpfe.
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise und insbesondere der vor uns liegende, sie vertiefende Krisenschub müssen also zum Wirtschaftskrieg führen. Weil der aber die zugrundeliegende Schwäche der kapitalistischen Akkumulation nicht lösen wird – in keinem der Hauptländer des Systems –, wird der Wirtschaftskrieg über eine Reihe von internationalen Krisen zum Krieg eskalieren.
Die Bestie töten
Lucas Zeise hat in der Wochenzeitung Unsere Zeit darauf hingewiesen, dass die Einsicht in die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, die sich 2008 weltweit verbreitete, kaum irgendwo zur einer Stärkung der Linkskräfte geführt habe. Er wies zu Recht darauf hin, dass es von links keine schlüssige Strategie gegeben habe, wie aus dieser krisenhaften Zuspitzung ein Ausweg hätte erkämpft werden können. In der Tat: Vor 1914 gab es eine vor Selbstbewusstsein strotzende Arbeiterbewegung sowohl in Deutschland als auch in Frankreich und England, und dennoch konnte nicht verhindert werden, dass Tausende und Abertausende Arbeiter ihr Leben in einem Krieg der Imperialisten ließen. 1939 befand sich die Macht im größten Land der Welt in den Händen einer kommunistischen Partei. Doch auch dieser Umstand vermochte nicht zu verhindern, dass noch mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg das Völkergemetzel mit dem Leben bezahlen mussten.
Angesichts des beklagenswerten Zustands der linken Bewegung, angesichts mangelnden Klassenbewusstseins steht zu befürchten, dass ein weiterer Weltkrieg kaum zu verhindern ist. Und angesichts des technischen Entwicklungsstands der Waffensysteme würde ein solcher Krieg aller Voraussicht nach das Ende der uns bekannten menschlichen Zivilisation bedeuten.
Die Hoffnung ist lediglich diese: Es gibt ein langsam wachsendes Bewusstsein breitester Schichten, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Und es gibt jene um sich greifende Ratlosigkeit der herrschenden Klassen. Es könnte daher gelingen, die Vorschläge z. B. einer Kate Raworth für eine Ökonomie jenseits von Geld- und Marktbeziehungen – also gestützt auf Commons und Kommunen – zu verknüpfen mit der von den Bolschewisten 1917 und 1945 bewiesenen Möglichkeit, kapitalistische Macht- und Klassenstrukturen nicht nur theoretisch zu analysieren, sondern praktisch zu liquidieren.
Das ist nur scheinbar Äonen weit weg von der gegenwärtig erbärmlichen Lage. Sowohl die Entwicklung in Russland in den beiden Jahren 1916 und 1917 als auch jene in Deutschland in den Jahren 1917 und 1918 zeigen, dass geschichtliche Prozesse zuweilen schneller und positiver eskalieren können, als das selbst die glühendsten Revolutionäre zu hoffen wagen – wie seinerzeit Lenin im Züricher Exil. Der glückliche Ausgang in revolutionären Phasen wird immer in den nichtrevolutionären Phasen vorbereitet. In ihnen entscheidet sich Wohl oder Wehe der Entwicklungen.
Die Verknüpfung einer weltweiten Commons-Bewegung mit international abgestimmten Kämpfen gegen die herrschenden Klassen und damit die Einleitung eines den Kapitalismus aufhebenden Prozesses ist die Aufgabe kommunistischer Parteien, die auf der Grundlage des Marxismus handeln. Sie werden die Aufklärung über die im Kapitalismus wirkenden Gesetze mit wirksamen Aktionen so verbinden, dass sie zum Aufbau einer wissenschaftlich fundierten, klassen- und geschichtsbewussten Avantgarde beitragen. Diese neue Avantgarde wird nicht davon tagträumen, den Kapitalismus von links zu optimieren. Sie wird die kapitalistische Bestie diesmal töten, weil sonst die Gattung Mensch in zivilisierter Form nicht mehr leben kann.